Königin der letzten Blumen
Seit Jahren schon geisterten die gefährdeten Bienen immer wieder mal durch die Medien, aber jetzt haben Wissenschaftler alarmierende Ergebnisse einer Langzeitstudie veröffentlicht. Die Insektenmasse ist seit 1989 um 75 Prozent (!) geschrumpft. Eine Entwicklung, die verheerende Folgen für unsere Welt haben kann.
Als diese dystopische Geschichte vor einigen Monaten entstanden ist, gab es die Studienergebnisse noch nicht. Die Warnungen jedoch schon. „Königin der letzten Blumen“ ist ein winziger fiktiver Einblick in eine Welt, die die Warnungen zu lange ignoriert hat.
Eigentlich wollte ich die Geschichte gar nicht veröffentlichen. Sie war mal ein spontaner Wettbewerbsbeitrag, auf den allerletzten Drücker (am Tag des Einsendeschlusses) runtergeschrieben. Den Erfolg könnt ihr euch denken 😉 Sie ist nur wenig mehr als eine Rohfassung. Trotzdem publiziere ich sie jetzt, weil ich das Thema so wichtig finde, dass es jedes bisschen mediale Aufmerksamkeit gebrauchen kann.
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Esther Wagner
Königin der letzten Blumen
Die Blumen vermisse ich am meisten. Manchmal laufe ich im Traum durch ein Blütenmeer. Ich rieche den Duft, sehe die Farben, spüre das Leben. Ich flechte einen Blumenkranz und trage ihn wie eine Krone. Königin des Sommers, der nie endet. Bis ich aufwache.
Mein Gesicht ist taub vor Kälte. Wir haben Ende März und immer noch Nachtfrost. Immerhin habe ich inzwischen genug Decken für ein warmes Lager. Und der große Daunenmantel war ein Glücksgriff. Damals hatte ich Skrupel, mit den Plünderern den Laden zu stürmen, aber Micha hat mich mitgezerrt. Die wütenden Vorstadtjungs hatten wieder Autos angezündet und Scheiben eingeschlagen. Ich und Micha waren zufällig dort und er meinte, wir müssten die Gelegenheit nutzen. Mir war dabei nicht wohl. Ich war ein anständiger Mensch, auch wenn ich alles verloren hatte. Jetzt, fünfzehn Monate später, weiß ich, dass ich mir Anstand nicht mehr leisten kann.
Neben mir raschelt es. Michas wuscheliger Kopf taucht aus dem Deckenberg auf. Er reibt sich verschlafen die Augen. Der Rauhreif in seinem Haar glitzert in der Morgensonne und mir wird ein wenig wärmer. Trotzdem sollte ich Feuer machen, denn Herzenswärme vertreibt die Nachtkälte nicht aus den Gliedern. Seufzend schäle ich mich aus meinem gemütlichen Kokon, stochere in der Glut herum und lege einen Holzscheit auf.
“Guten Morgen”, gähnt Micha und reibt sich die kalten Hände.
“Morgen.”
“Eine große Latte Macchiato mit Vanille und Extra-Shot, bitte”, sagt er und grinst mich mit seiner Zahnlücke an.
Ich muss unwillkürlich lächeln. Er schafft es, jedem Morgen die Bitterkeit zu nehmen. “Darf ich dir stattdessen unseren Bio-Wildkräutertee empfehlen? Der ist total angesagt.” Ich mache den Unsinn mit. Er lenkt vom Hunger und der Angst ab.
“Dann nehme ich einen Hipstertee”, sagt Mika.
“Dauert ein bisschen.” Ich gieße den Rest des geklauten Mineralwassers in den Topf, hänge ihn über das Feuer und werfe Gras und Löwenzahnblätter hinein. Kein Edeltee, aber er wärmt und füllt den Magen.
Micha nimmt sein Smartphone aus der Tasche, guckt kurz drauf und steckt es wieder weg. Es ist ausgeschaltet.
“Warum machst du das immer?” frage ich ihn.
“Gewohnheit”, antwortet er achselzuckend. “Ich würde gern mal bei Twitter reinschauen, falls es das noch gibt. Oder mein Frühstück fotografieren. Aber ich spare mir das letzte bisschen Akku für das große Finale auf. Ich kann doch diese Welt nicht ohne ein Selfie verlassen”, sagt er und zwinkert mir zu.
Ich verdrehe die Augen.
Kurz darauf sitzen wir Seite an Seite beim Frühstück, trinken Tee, essen Löwenzahn mit durchweichten Kartoffelchips und lassen unser taufeuchtes Haar von der Sonne trocknen.
“Eigentlich müssten uns alle beneiden. Wir haben jeden Tag Abenteuerurlaub”, sagt Micha plötzlich und grinst sein Zahnlückengrinsen.
„Deine positive Einstellung ist unzerstörbar, oder?” Ich teile sie nicht, lasse mich aber gerne ein wenig davon anstecken.
“Das weißt du doch. Ich genieße jeden Tag, den ich noch lebe. In Freiheit. Wir haben es besser als die Spießer, die schön brav im Fascho-Kindergarten mitspielen. Ehe ich meine Freiheit aufgebe, sterbe ich. Aber vorher feiere ich das Leben.”
Ich antworte nicht. Ich würde die Freiheit jederzeit gegen ein Dach über dem Kopf und ein angstfreies Leben tauschen. Er hat die Straße freiwillig gewählt, ich nicht.
“Eigentlich ist das alles ein schlechter Witz”, sagt Micha. “Ich meine, wie oft haben sie die Apokalypse vorhergesagt? Durch Terroristen, verrückte Präsidenten, Atomwaffen, Zombies, das Internet… Und dann gehen wir wegen der verdammten Bienen drauf. Ich meine: Bienen! Wie lächerlich ist das?” Er lacht, doch diesmal höre ich Bitterkeit heraus.
Das Bienensterben begann schleichend.
Monokulturen, Krankheiten, falsche Zuchtmethoden – all diese Probleme sorgten über Jahre für die langsame Ausrottung der Bienen. Aber niemand rechnete mit der Insektenpandemie. Ein Virus vernichtete binnen weniger Wochen 90 Prozent der Bienenvölker. Im März vor vier Jahren waren sie offiziell ausgestorben. Die Besorgnis hielt sich dennoch in Grenzen. Wir hatten andere Probleme. Dachten wir. Bis sich erste Konsequenzen zeigten. Ernten fielen aus, Unternehmen machten Milliardenverluste und eine Lösung war nicht in Sicht. Die Preise für viele Lebensmittel stiegen ins Unermessliche. Am Anfang scherzten wir noch, dass wir uns eben von Fleisch und Süßigkeiten ernähren müssten, wenn es kein Obst und Gemüse mehr gäbe. Doch das Lachen verging uns, als die Nachrichten Mütter zeigten, die sich im Supermarkt um die letzten Baby-Obstgläschen prügelten.
Das war die Stunde der Populisten. Sie nutzten alles aus: den Börsencrash, die Wirtschaftskrise, Massenentlassungen, Plünderungen und wachsenden Fremdenhass. Nackte Existenzangst. Sie versprachen, dass sie sich kümmern würden. Und ganz normale Menschen, die kurz zuvor noch für mehr Toleranz demonstriert hatten, wählten Faschisten an die Macht. Jetzt lebe ich auf der Straße, in einem Polizeistaat mit Notstandsgesetzen und Auffanglagern für unerwünschte Personen, und muss täglich um mein Leben fürchten.
Ich schrecke aus meinen Gedanken auf, als mich etwas in die Seite knufft. “Hey, träumst du wieder?”, raunt Micha mir ins Ohr und kitzelt mich. Ich kichere los, obwohl mir nicht nach Lachen zumute ist. “Ich werd dir deine miese Stimmung schon austreiben”, grinst er und kitzelt mich noch mehr.
“Hör auf!” Ich kriege kaum noch Luft vor Lachen. “Micha, es reicht! Bitte!”
Er lässt mich los und ich falle japsend ins feuchte Gras. Dann beugt er sich über mich und küsst mich. “So gefällst du mir besser. Du grübelst zu viel.”
“Es fällt mir einfach schwer, das hier als lustigen Campingurlaub zu sehen, wenn ich ständig Angst und Hunger hab.”
“Wir kommen schon klar. Wir müssen nur noch ein bisschen durchhalten, bis diese Scheiße vorbei ist.”
“Aber die Scheiße geht nicht vorbei, Micha.” Plötzlich nervt mich sein unerschütterlicher Optimismus. Ich winde mich aus seinem Griff, rolle ein paar Meter zur Seite und lande in einem modrig stinkenden Laubhaufen. Als ich aufstehen will, greife ich in etwas Glitschiges. Angeekelt ziehe ich die Hand weg und springe auf.
“Verfickte Scheiße!” Unter dem Laub liegt ein Toter. Sein Bauch ist aufgerissen und die Verwesung hat schon eingesetzt. Sein Gesicht ist unter dem nassen Laub verborgen. Ich weiß nicht, warum ich die Blätter mit dem Fuß wegschiebe. Ich höre Micha schreien, doch ich will das Gesicht des Toten sehen. Ich muss sein Gesicht sehen. Seine Wangen sind eingefallen, schlimmer als meine, und die Haut löst sich ab. Doch seine Augen sind geschlossen und sein Gesichtsausdruck ist entspannt, als würde er schlafen. Da liegt er mit aufgerissenem Bauch und träumt von der Zeit der Blumen! Mein Kopf kriegt die beiden Bilder nicht zusammen. Mir dreht sich der Magen um und ich kotze mein spärliches Frühstück auf meine Schuhe. Als ich wegrennen will, versagen mir die Knie. Ich höre Michas Stimme und spüre, dass er mich festhält, dann wird mir schwarz vor Augen.
Ich habe von Blumen geträumt. Roten, stinkenden Fleischblumen, die zuschnappen, wenn eine Hand nach ihnen greift.
“Hier, trink das.”
Ich blinzele und brauche ein paar Momente, um die Stimme zuzuordnen. “Micha”, krächze ich. Meine Kehle ist rauh und ausgetrocknet. Micha setzt mir meine Teetasse an die Lippen und stützt mich, während ich schluckweise trinke. Der Tee ist fast kalt, aber er spült den widerlichen Geschmack aus meinem Mund.
“Danke”, sage ich, ohne meinen Freund anzusehen. Mein Magen schmerzt vor Hunger und Restekel.
Micha streichelt mir den Rücken. “Alles ok. Es wird alles gut.”
“Der Tote…”
“…ist wahrscheinlich verhungert, so abgemagert, wie er aussieht.” Mika zwingt mich sanft, noch ein paar Schlucke Tee zu trinken. “Die Leiche ist in üblem Zustand. Liegt schon ein paar Tage da und ein wilder Hund ist darüber hergefallen.”
Mich schaudert es. “Scheiße!” sage ich, weil mir die Worte fehlen. “So eine Scheiße!” Seit ich auf der Straße lebe, habe ich viele Tote gesehen. Sie sind verhungert, erfroren oder von Raubmördern erschlagen worden. An den Anblick werde ich mich nie gewöhnen.
Micha streichelt meinen Rücken. “Es wird besser. Dieser Albtraum kann nicht ewig dauern.”
“Was soll sich denn ändern? Die Bienen kehren nicht zurück und die Faschos an der Regierung werden wir auch nicht mehr los.”
“Es gibt den Widerstand.”
Ich verdrehe die Augen. “Diese Chaostruppe halb verhungerter Versager?”
“Sie werden jeden Tag stärker. Wir müssen nur noch ein bisschen durchhalten, dann jagen sie die Diktatur in die Luft!”
Ich starre ihn entgeistert an. “Micha, das glaubst du nicht ernsthaft? Außerdem sind das Terroristen!”
“Nein, es sind Widerstandskämpfer”, widerspricht er.
“Sie haben mehrere Anschläge verübt.”
“Nur auf Regierungseinrichtungen, nie auf Unbeteiligte”, entgegnet er. “Verzweifelte Situationen verlangen verzweifelte Maßnahmen. Sie haben ja keine anderen Mittel gegen die Faschisten. Aber sie werden diesen Horror beenden.”
Ich seufze genervt. “Red dir doch nichts ein!”
Micha starrt mich wütend an. “Doch, ich rede es mir ein! Ich glaube fest daran, dass wir das überstehen. Wenn ich die Hoffnung aufgebe, kann ich mich auch gleich zu dem toten Typen da drüben legen und warten, bis die Hunde kommen.” Er packt mich so fest, dass es wehtut. “Reiß dich zusammen, Elif! Wir schaffen das!” Dann nimmt er mich in die Arme.
Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und schließe die Augen. Wie oft haben wir diese Diskussion schon geführt. Ich bin müde, viel zu müde, um mit ihm zu streiten. Wenn er mich nicht mitzerren würde, hätte ich mich vielleicht wirklich schon zum Sterben unter eine Brücke gelegt. Im Winter ist das leicht. Ein, zwei Decken weniger und einfach einschlafen. Man merkt nicht mal, dass man stirbt. Denke ich.
Micha klopft mir auf den Rücken. “Komm, lass uns abhauen. Ich will dem hungrigen Hund nicht begegnen, der den Kerl da drüben so zugerichtet hat.” Er hilft mir auf die Beine und wir packen unser Zeug zusammen. Decken, Kochtopf und ein paar Erinnerungen an die Zeit der Blumen.
Der Tote verfolgt mich.
Jede Nacht besucht er mich in meinen Träumen. Ich weiß nicht, wie viele Tage vergangen sind, seit ich ihm begegnet bin. Eine Woche? Zwei? Manchmal bin ich so, lebe an der Welt vorbei. Ich funktioniere nur, wie eine seelenlose Maschine. Mache Frühstück, rede mit Micha, wandere mit ihm ziellos umher, fern von den Menschen und doch nah genug, um Lebensmittel aus Mülltonnen fischen zu können. Ja, die Menschen werfen immer noch massenweise Essen weg, obwohl es angeblich so knapp geworden ist.
Der Tote ist mein unsichtbarer Begleiter. Ich sehe sein friedliches, verwesendes Gesicht vor mir und frage mich, was seine Geschichte war. Hatte er seinen Job verloren und keinen Anspruch auf Sozialhilfe, wie so viele Alte und Kranke? Ineffektiv nennt die Regierung diese Menschen. Nutzlos. Oder war er wie ich, deutsch mit Migrationshintergrund und daher zum Abschuss freigegeben? Ressourcenschonung. Weil wir den wertvollen Biodeutschen das bisschen Essen wegfressen, das ihnen noch bleibt.
Ich frage mich, ob ich auch so friedlich aussehen werde, wenn ich sterbe. Und erschrecke vor mir selbst, weil mir dieser Gedanke keine Angst macht.
Plötzlich habe ich eine Schnapsflasche in der Hand. Fassungslos starre ich erst die Flasche, dann Micha an, der mich angrinst wie ein Lausbub. Zum ersten Mal seit Tagen lichtet sich der Nebel in meinem Kopf.
“Wo hast du das denn her?” frage ich.
“Organisiert. Für die Party.”
“Was feiern wir?”
“Das Leben”, antwortet Micha fröhlich. “Einstein hat der Menschheit vier Jahre gegeben, wenn die Bienen verschwunden sind. Heute sind es vier Jahre und ein Tag, seit die Geschichte zum ersten Mal durch die Medien ging. Wir sind noch da!”
Typisch für Micha, dass er sowas weiß. Sein Lächeln ist aufrichtig glücklich. Ich schaffe es nicht, es zu erwidern, doch ich nicke und öffne die Flasche. “Na dann: auf uns!” Der Alkohol brennt sich seinen Weg in meinen Magen. Er schmeckt scheußlich gut. Ich nehme noch zwei Schlucke und reiche Micha die Flasche.
“Auf das Leben!” sagt er und kippt sich den Schnaps in den Hals. Er bekommt erst einen Husten-, dann einen Lachanfall. “Da hab ich uns ja was Feines besorgt. Hochwertigen Brennspiritus!”
Sein Lachen und der Alkohol entlocken mir ein Grinsen. “Du bist eben ein Gourmet.”
“Und ich hab noch was für dich.”
Ich traue meinen Augen nicht, als er mir eine echte, lebendige Chrysantheme überreicht. Ich schreie auf vor Verwunderung und Freude. Mit zitternden Fingern betaste ich die gelben Blütenblätter. Mir kommen die Tränen. “Wo hast du sie gefunden?”
Micha reicht mir die Hand. “Komm mit, ich zeig’s dir!” Er zerrt mich auf die Beine und wir rennen los, Hand in Hand, wie Kinder.
“Da drüben ist es.”
Wir stehen hinter einem Schuppen, in dem früher Erdbeeren verkauft wurden. Vor uns uns liegen riesige Gewächshäuser. Das Gelände ist von Stacheldraht umgeben und ich sehe schon von hier aus mehrere Überwachungskameras.
“Eigentlich hatte ich auf Gemüse gehofft”, sagt Micha mit seinem Zahnlückengrinsen. “Kleine Enttäuschung, als ich stattdessen in einem Blumenmeer stand. Aber ich hab gleich an dich gedacht.”
“Wie bist du da reingekommen?” frage ich verwundert.
“Da drüben ist eine Kamera kaputt. Komm mit!” Er zerrt mich wie üblich mit, obwohl ich protestiere. “Warte! Wenn uns jemand entdeckt!”
“Heute ist Sonntag”, antwortet er, ohne anzuhalten. “Außerdem hab ich zwei Stunden lang alles gecheckt, bevor ich rein bin. Hier ist niemand.”
Wir laufen geduckt durch das hohe Gras am Wegesrand. Die Sonne geht schon unter.
“Hier ist es”, sagt Micha und späht um sich. “Vor uns waren schon andere da. Die waren wahrscheinlich genauso enttäuscht wie ich, als sie nichts zu essen gefunden haben. Aber sie haben uns Arbeit abgenommen.”
Ich sehe sofort, wie er aufs Gelände gekommen ist: durch ein Loch im Zaun. Mein Blick fällt auf die Überwachungskamera, die etwa einen Meter davon entfernt steht. Sie ist zerstört. Mich wundert, dass das noch niemand bemerkt hat. Doch ich habe keine Zeit zum Grübeln, denn Micha packt mich an der Hand und zieht mich weiter. Wir kriechen dicht am Boden bis zum Zaun. Mein Herz hämmert und am liebsten würde ich wegrennen, aber ich will die Blumen sehen. Also folge ich Micha vorsichtig durch das Loch im Stacheldrahtzaun. Wir robben zum nächstgelegenen Gewächshaus und klettern durch eine zerbrochene Scheibe.
Ich stehe mitten in einem Blumenmeer.
Einem Meer aus leuchtend bunten Chrysanthemen. Ich kriege Gänsehaut, stehe einfach da und versinke in dem wunderschönen Anblick.
“Gefällt es dir?” flüstert mir Micha ins Ohr.
Ich kann nur nicken, denn mir laufen plötzlich die Tränen übers Gesicht. Er umschlingt mich von hinten mit seinen knochigen Armen und drückt mich fest an sich. “Ich hab dir doch gesagt, dass wir heute das Leben feiern. Aber stilecht, mit Blumendeko und allem.”
Ich lache unter Tränen und schmiege mich an ihn. “Danke, Micha”, flüstere ich. “Danke.”
“Ist immer noch alles hoffnungslos?”
Ich schüttele den Kopf. “Ich wusste nicht… ich hab nicht geahnt, dass es sowas noch gibt.” Ich löse mich sanft aus Michas Umarmung, um die Chrysanthemen aus der Nähe zu betrachten.
“Wenn du Geld hast, kannst du dir auch handbestäubte Blumen für deine Beerdigung kaufen”, sagt Micha achselzuckend.
Ich vergrabe meine Hände in dem Blütenteppich und pflücke ein paar der gelben Schönheiten, bevor ich zum nächsten Beet laufe. Ich will mir einen Kranz flechten, wie in meinem Traum. Zum ersten Mal seit Wochen, seit Monaten fühle ich mich lebendig. Vielleicht hat Micha ja doch Recht und es ist nicht alles verloren.
Ich tanze durch ein Blumenmeer. Ein Chrysanthemenkranz bedeckt mein schmutziges, verfilztes Haar. Ich bin die Königin des Sommers, wenn auch nur für einen Abend. Micha spielt mit seinem Handy, doch dann blickt er auf und lächelt mir zu. Ich wusste nicht mehr, wie sich Glück anfühlt: Es ist bunt und lebendig und duftet nach Blumen. Ich atme tief ein, breite die Arme aus und lache, lache im Blütenrausch. Lache mir die Seele aus dem Leib. Bis der Traum zersplittert.
“Keine Bewegung! Hände hinter den Kopf!”
Schwere Stahlkappenschritte poltern in das Blütenmeer, Glasscherben knirschen unter den Sohlen. Waffen werden entsichert, überall schwarze Helme, Körperpanzer, Maschinenpistolen. Es ist aus.
Langsam nehme ich die Hände hoch, verschränke sie hinter meinem Kopf und suche Michas Blick. Da steht er zwischen mir und dem Sondereinsatzkommando, in einem Beet voller blutroter Chrysanthemen. In der linken Hand hält er eine Blume, in der rechten sein altes Smartphone. Es ist eingeschaltet. Entsetzen packt mich. Ich schüttele fast unmerklich den Kopf. Mach keinen Scheiß, Micha! Bitte! Er zwinkert mir zu und für einen Sekundenbruchteil blitzt mich seine Zahnlücke an. Nein!
Er breitet die Arme aus und geht langsam auf die Polizisten zu, entfernt sich von mir.
“Stehenbleiben!”
Micha grinst nur und geht weiter. “Vier Jahre und ein Tag. Wir haben schon gewonnen”, sagt er laut. Seine Worte sind für mich bestimmt. “Wir feiern das Leben, die Freiheit. Jeden Tag, bis zum großen Finale.”
“Stehenbleiben!”
“Darf ich noch ein Selfie mit euch machen?” Er dreht sich zu mir um und hebt das Smartphone. “Lauf!” Klick.
Ich renne, renne um mein Leben. Maschinenpistolen knattern und hinter mir explodiert das Blumenmeer.
Frost glitzert im Licht des Vollmonds.
Mir ist kalt. Ich hocke unter einer alten Fußgängerbrücke, ohne Essen, ohne wärmende Decken, mit zerfetzter Daunenjacke und einem welken Chrysanthemenkranz auf dem Kopf. Mein Rücken brennt wie Feuer. Tausend winzige Glassplitter haben sich hineingebohrt, als Micha das Gewächshaus mit den Polizisten in die Luft gejagt hat. Ich habe nichts geahnt. 15 Monate hat er sein Geheimnis bewahrt. Ich wusste, dass er sterben würde, als er sein Smartphone einschaltete. Dass er mit einem Knall gehen würde, wusste ich nicht. Er hatte alles geplant: Den Zeitpunkt, den Ort, die Umstände. Keine Ahnung, wo er die Sprengstoffweste her hatte. Er muss Kontakt zum Widerstand gehabt haben. Wie konnte ich das übersehen?
Die Selfie-Geschichte habe ich immer für einen makaberen Witz gehalten. Aber er hat es tatsächlich geschafft, ein Foto und einen Link zu einem Bekennerschreiben zu twittern. Ich greife nach der zerknitterten Zeitung, die ich aus einer Mülltonne gezogen habe. Im Mondlicht erkenne ich Micha auf dem Titelbild. Seine Zahnlücke grinst in die Kamera, im Hintergrund sieht man Millionen Blüten und das Sondereinsatzkommando, mit MPs im Anschlag. Ohne die Bullen wäre es ein fröhlicher Urlaubsschnappschuss. Es passt zu ihm.
Der Frost kriecht in meine Glieder. Ich bin müde, doch ich habe Angst, einzuschlafen. Ich habe Angst vor den Träumen. Darin renne ich noch immer durch eine Blumenwiese. Doch die Blumen wachsen auf Gräbern und aus den Bäuchen verwesender Leichen. Eine davon ist Micha. Er grinst mich an, doch seine Augen sind leer. Wenn ich ihn berühre, explodiert die Welt in einem Schauer aus Blütenblättern und Leichenteilen. Deshalb will ich nicht einschlafen. Ich kann nicht den sanften Tod der Frostnacht wählen, denn ich will nicht mit einem Albtraum gehen. Ich werde leben. Mühsam stehe ich auf und beginne im Mondlicht zu tanzen, um die Kälte zu vertreiben. Meinen Kopf krönt ein Kranz der letzten Blumen.
Chrysanthemen.
Totenblumen.